Tanja Kerp über Stickermania und die Suche nach der verlorenen Gelassenheit.

Die SPAR-Stickermania hat einen Hype ausgelöst. Junge und Junggebliebene sammeln, kleben, tauschen. Ein abenteuerlustiger Junge und sein kluger Freund, eine allwissende Büchse, reisen gemeinsam durch die Welt. Sie lernen Land und Leute kennen, überstehen jede Menge Gefahren und vermitteln spielerisch Wissen. Die Story ist genial. Doch wie wirkt sich dieses Phänomen auf den Alltag einer ganz durchschnittlichen Familie aus? Ein Perspektivenwechsel.

9, 18, 105, 157, 188 fehlen, 124 Doppelte und 4 Miniflaggen, aber nur 3 Rätselsticker. Jeden Morgen höre ich solche kryptischen Codes wie ein Mantra und abends lullen mich Ameiven, Zwergseidenäffchen und Andenschakale in den Schlaf. Kürzlich habe ich sogar von der stacheligen Laubheuschrecke mit ihrem grün-glibberigen Körper und den psychopatisch starrenden Augen geträumt. Wie ich mittlerweile weiß, raubt sie nicht nur mir den Schlaf, sondern schlägt selbst Affen in die Flucht. Apropos Affen, der Lieblingssticker meines Mannes ist das goldgelbe Löwenäffchen. Und weil wir grad bei Lieblingsstickern sind: Seit einer Woche spielt sich jeden Mittag dasselbe Drama ab. Mein Großer will einen peruanischen Nackthund. Genau so einen, wie auf Sticker Nummer 10 abgebildet. Kommt nicht in die Tüte. Weil diese Hunde kein Fell haben, das sie vor der Sonne schützt, müssen sie mit Sonnencreme eingeschmiert werden. Ganz ehrlich, das Eincremen der eigenen Kinder treibt mir schon Schweißperlen auf die Stirn – wer kauft sich da bitte einen Nackthund?

Meine Familie liegt im Stickermania-Fieber. Offensichtlich funktioniert nur noch mein eigenes Immunsystem einwandfrei. Fragt sich, wie lange noch – nachdem mein durch die Laubheuschrecke verschuldetes Schlafdefizit auch tagsüber nicht mehr aufzuholen ist. Seit Kurzem bringt mich nämlich eine wilde Horde Jungs um mein wohlverdientes Mittagsschläfchen. In meinem Wohnzimmer werden lautstark Sticker getauscht. Coca-Blätter kauen, schlägt mein Sohn grinsend vor. Das macht wach, steht im Buch. Genau, träum weiter, chiquito! Und als ob das alles nicht schon genug wäre, stellen sie auch noch mein Haus auf den Kopf.

Nicht nur Oskar und Bo suchen nämlich nach dem Inkaschatz, den angeblich der Sonnengott Inti versteckt hält. Nein, sie haben Gehilfen. Die Schatzsucher aus der 2a-Klasse meines Sohnes. Die Urgroßmutter meiner Kinder ist nämlich in den Dreißigerjahren nach Bolivien ausgewandert und hat dort vierzig Jahre ihres Lebens verbracht. Deshalb ist unser Haus voll mit Inti-Figuren.

Man glaubt’s kaum. Der Sonnengott ziert Kaffeelöffel, Lederhocker, Schalen und selbst meinen Lieblingsring. So was nenne ich Schicksal.

Auf der Suche nach der verlorenen Ruhe nehme ich das Problem selbst in die Hand. Die fehlenden Sticker müssen her, um jeden Preis. Weißbüschelaffe, Capybara, Feigenkaktus, fehlen noch 21. Ich stürme die SPAR-Filiale bei uns um die Ecke. Eine Packung Sticker für zehn Euro Einkauf. Die Verkäuferin mustert mich seit Neuestem misstrauisch aufgrund meiner Panikkäufe. Wie soll sie auch wissen, dass bei uns weder Magen-Darm-Grippe noch völlige Maßlosigkeit ausgebrochen sind? Ich schaffe Vorräte an.

Aconcagua, Panamakanal, Quipu und Cotopaxi (was bitte ist ein Cotopaxi!?) haben wir, aber es fehlen immer noch welche. Zwei Wochen, sechzig Klopapierrollen, dreißig Schwedenbomben und acht Bierkisten später folgt die Ernüchterung: der Sumpfhirsch, der Südpudu und Che Guevara fehlen immer noch.

Außerdem habe ich mich ertappt, dass ich heimlich angefangen habe, das Stickermania-Album und die Suche nach dem verlorenen Schatz zu lesen. Ziemlich schlau gemacht. Eine spannende Abenteuerreise quer durch Südamerika und ganz nebenbei erfährt man viel zu Fauna, Flora und Kultur. Beim Frühstück erzähle ich, dass die Kaffeebohne eigentlich eine Steinfrucht ist und dass man aus dem Stängel einer tropischen Pflanze Rohrzucker gewinnt. Außerdem wird ein Kakaobaum bis zu 15 m hoch. Spannend. Und Bananen sind doch tatsächlich Beeren. Wer hätte das gedacht?

Meine persönliche Abenteuerreise endet leider nicht bei den Inka-Ruinen Perus, sondern bei Interspar. Stickermania-Tauschbörse. Gefühlte dreihundert Kinder. Ebenso viele Mütter. 120 Dezibel. Mein Sohn und die Schatzsucher-Gang schmeißen sich euphorisch ins Getümmel. Während ich warte, denke ich über die unmittelbare Verknüpfung von Hamsterkäufen und Körpergewicht nach. Vielleicht kaufe ich mir doch einen peruanischen Nackthund. Der würde mich zu mehr Bewegung zwingen.

Mein Sohn reißt mich aus meinen Gedanken. Mit strahlenden Augen, breitem Grinsen und den heiligen drei Stickern in der Hand steht er neben mir. Mir wird warm ums Herz. Irgendwie hat er sogar eine Ähnlichkeit mit Oskar, wenn er so grinst. Geschafft! Danke, großer Sonnengott! Oder wie Che Guevara sagen würde: Hasta la victoria siempre! Immer bis zum Sieg!

Autoren.

  • Tanja Kerp. Texterin.

    Tanja Kerp ist leidenschaftliche Texterin. Sie kann mit Worten heftiges Herzklopfen oder wohlige Gänsehaut erzeugen. Und schafft mit durchdachten Konzepten Impact für starke Marken. Sie ist Freelancerin mit 18 Jahren Erfahrung in der Werbebranche und hat dadurch das große Ganze stets im Blick. True Story: Tanja ist Mutter von zwei Stickermaniacs, deren Urgroßeltern über 40 Jahre in verschiedenen Ländern Südamerikas gelebt haben. Aus dieser Zeit stammen tatsächlich noch viele Alltagsdinge, die den Sonnengott Inti zeigen. www.kerp.co.at